C. Ammann-Doubliez: Chancelleries et notariat dans le diocèse de Sion

Titel
Chancelleries et notariat dans le diocèse de Sion à l’époque de maître Martin de Sion († 1306).


Autor(en)
Amman-Doubliez, Chantal
Reihe
Etude et édition du plus ancien minutier suisse (= Cahiers de Vallesia / Beihefte zu Vallesia 19)
Erschienen
Sitten 2008: Archives de l'Etat du Valais / Staatsarchiv Wallis
Anzahl Seiten
598 S., 46 farbige Tafeln
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Andrea Meyer

Welch kostbare Quellen aus dem Spätmittelalter weitgehend unerforscht in Schweizer Archiven liegen, wird dem Leser dieser Studie sofort klar. Daher ist zu hoffen, dass die Schätze der West- und Südschweizer Notariatsarchive nun endlich gehoben werden, denn diese Protokolle erlauben tiefe Einblicke in Bereiche der Kultur-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, die von Pergamenturkunden kaum oder gar nicht abgedeckt werden. Letzteres liegt daran, dass wir die Urkunden vor allem kirchlichen und in geringerem Masse weltlichen Institutionen verdanken. Daher beziehen sie sich auch meistens auf die sie überliefernde Institution oder auf deren Rechtsnachfolger. Der institutionell nicht abgesicherte, sozusagen private Bereich der einstigen Realität fehlt deshalb weitgehend.

Zwar verdanken wir auch die beiden hier im Zentrum stehenden Register einem kirchlichen Archiv – den Archives du Chapitre cathédral de Sion –, doch betrifft das meiste, was in ihnen enthalten ist, nicht das Domkapitel, sondern die Einwohner des mittleren Wallis, sofern sie über Besitz verfügten, von Schulden geplagt oder in Rechtshändel verstrickt waren. Denn vor einem Notar wurde alles verhandelt, was Verpflichtungen mit sich zog. Dieser schrieb seit dem 13. Jahrhundert die vor ihm verhandelten Dinge in sein Register. Öffentliche Notarsarchive entstanden aber erst an der Wende zur Neuzeit, weshalb die frühen Register oft verlorengingen.

Zunächst wird der Frage nachgegangen, weshalb die beiden Register auf uns gekommen sind. Damit macht diese Studie auf eindrückliche Weise klar, dass der inhaltlichen Analyse einer mittelalterlichen Quelle eine hilfswissenschaftliche Quellenkritik voranzugehen hat, welche die Überlieferungsgeschichte einbezieht – eigentlich eine Binsenwahrheit, aber in letzter Zeit oft vergessen, weil man diesbezüglich kaum durch originelle Gedanken auffallen kann.

Seit dem 12. Jahrhundert verfügte das Sittener Domkapitel im Mittel- und Oberwallis über das Kanzleirecht, während letzteres im Unterwallis beim Kloster St-Maurice lag. Das Kanzleirecht geht auf die spätantike Insinuation zurück, die in karolingischer Zeit in anderer Form wiederbelebt und den Grafen zugeordnet wurde – damals erhielt der für die Veröffentlichung gewisser Privatrechtsakte zuständige Notar den Titel cancellarius – und in Ober- und Mittelitalien seit der Mitte des 12. Jahrhunderts quellenmässig in unterschiedlicher Form wieder greifbar wird. Im Bistum Sitten erscheint das Kanzleirecht und die damit verbundene Kanzleiurkunde im 13. Jahrhundert als Konkurrenz zum öffentlichen Notariat, wie es sich in Italien entwickelt hatte. In magister Martinus, dem Protagonisten der vorliegenden Studie, vereinigten sich die beiden konkurrierenden Traditionen, denn er war nicht nur während Jahrzehnten cancellarius des Domkapitels, sondern auch regie aule notarius publicus. Unser Glück gipfelt darin, dass eines seiner Register im Umfeld des Kanzleirechts entstand, während er das andere als Notarsregister führte, was vertiefte Einblicke in die damalige Dokumentationspraxis erlaubt und uns zwei inhaltlich unterschiedliche Ausschnitte aus der damaligen Realität liefert. Während Notare, durch Eid an eine der beiden Zentralgewalten gebunden, auf eigene Rechnung arbeiteten und einander konkurrenzierten, waren den für die Erfassung der Kanzleiakte zuständigen Personen (iurati oder levatores genannt, meist Geistliche) territorial definierte Bezirke zugewiesen. Die von ihnen erhobenen Akte wurden sodann in Sitten in ein pergamentenes Zentralregister eingetragen, wodurch sie Rechtskraft erhielten. Wenn gewünscht, wurde eine ungesiegelte Urkunde ausgefertigt. Martins jüngeres Register entstand in diesem Umfeld. Doch auch als Notar hielt Martin vieles in der Form der Sittener Kanzleiurkunde und nicht als Notariatsinstrument fest, wie die Analyse des älteren Registers ergab. Eine mustergültige Edition der beiden Register (ca. 300 Akte), durch einen Index erschlossen, beschliessen den schön gestalteten und reich illustrierten Band.

Zitierweise:
Prof. Dr. Andreas Meyer: Rezension zu: Chantal Ammann-Doubliez: Chancelleries et notariat dans le diocèse de Sion à l’époque de maître Martin de Sion († 1306). Etude et édition du plus ancien minutier suisse (= Cahiers de Vallesia / Beihefte zu Vallesia 19). Sitten 2008. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 60 Nr. 2, 2010, S. 261-262.

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Autor(en)
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 60 Nr. 2, 2010, S. 261-262.

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